„Hau ab, wenn es brenzlig wird!“

erschienen in: journalist 3/2015

Nach dem Sturz des ägyptischen Diktators Husni Mubarak hat die Journalistin Lina Attalah zusammen mit Kollegen die englisch-arabische Nachrichten-Website Mada Masr gegründet. Heute ist sie dort Chefredakteurin. Trotz immer stärker werdender Pressezensur im Land will sie mit ihrem Team unabhängig berichten. Kann das funktionieren?

Interview von Catalina Schröder

journalist: Frau Attalah, offiziell gibt es in Ägypten keine Pressezensur. Reporter werden aber immer wieder willkürlich festgenommen und müssen mit Polizeigewalt rechnen. Wie können Sie unter diesen Bedingungen unabhängig berichten?
Lina Attalah: Es stimmt, dass es in Ägypten viele Einschränkungen für Journalisten gibt. Seit dem Sturz von Husni Mubarak ist es sogar noch schwieriger geworden, hier zu arbeiten. Aber wissen Sie, wozu diese Einschränkungen in erster Linie führen? Zur Selbstzensur. Es gibt Journalisten, die so viel Angst vor der Regierung haben, dass sie freiwillig auf heikle Aspekte ihrer Geschichten verzichten. Einige Kollegen scheinen regelrecht unter Gedächtnisschwund zu leiden, wenn es beispielsweise um die Vergangenheit von einzelnen Politikern geht. Das ist ziemlich praktisch für die Regierung. Um diese Leute muss sie sich gar nicht mehr kümmern.
Wie sieht es mit der Selbstzensur in Ihrer Redaktion aus?
Es ist eine Gratwanderung – auch für uns. Bei Mada Masr versuchen wir trotzdem, alles zu schreiben, was uns wichtig erscheint. Wir berichten zum Beispiel über Gerichtsprozesse gegen politische Aktivisten – das trauen sich viele andere Medien nicht. In unseren Konferenzen diskutieren wir aber jeden Tag darüber, wie wir Geschichten bringen können, ohne damit ernsthafte Probleme zu bekommen. Wir versuchen, so weit wie möglich zu gehen – unter den Bedingungen, die wir leider nicht so schnell ändern können. Für Journalisten in einer Demokratie mag sich das komisch anhören, aber für uns geht es bei jedem Text auch um die Frage: Können wir in Zukunft noch berichten, wenn wir diese Geschichte jetzt bringen? Bisher funktioniert das.
Sie selbst hatten bereits Probleme mit der Regierung: Bei einer Demonstration gegen den damaligen Staatschef Mohammed Mursi haben Polizisten Sie geschlagen und an den Haaren über den Tahrir-Platz gezerrt. Wie halten Sie solche Einschüchterungen aus?
Ich glaube, wir schaffen es damit umzugehen, weil wir diese Arbeit für uns und für Ägypten machen. Die Website ist unsere Art, für ein offenes und demokratisches Land zu kämpfen. Ein Land, in dem wir irgendwann wieder ohne Angst leben wollen. Offensichtlich sind solche Vorfälle ein Teil des Preises, den wir dafür zahlen müssen. Ich kann gut verstehen, wenn Kollegen nicht dazu bereit sind, schließlich geht es hier um die eigene Sicherheit. Aber für mich ist Mada Masr der einzige Grund, in Ägypten zu bleiben – und dann muss ich damit rechnen, dass mir so etwas passiert.
Gibt es redaktionsinterne Sicherheitsregeln?
Ich sage unseren Reportern immer: Hau ab, wenn es brenzlig wird. Das ist keine Garantie, dass nichts passiert, aber die Leute können Situationen meist ganz gut einschätzen. Wir kooperieren auch mit anderen unabhängigen Medien im Land und versuchen, uns gegenseitig per Handy zu warnen, wenn es zum Beispiel bei einer Demonstration gefährlich wird.
Als Chefredakteurin von Mada Masr berichten Sie über die Politik im Land, gehen aber selbst als Privatperson immer wieder auf Demonstrationen gegen die Regierung. Wo ist für Sie die Grenze zwischen Journalismus und Aktivismus?
Ihre Frage ist schon falsch formuliert, das ist ja kein Gegensatz. Aktivist zu sein ist eine Lebenseinstellung, Journalist ein Beruf. Sie können doch auch Bäcker und Aktivist oder Lehrer und Aktivist sein. Das Problem ist nicht, dass irgendwelche Grenzen überschritten werden, sondern dass die Politik in Ägypten momentan nicht die Offenheit zulässt, die es braucht, um Aktivist zu sein.
Wie kommt es, dass Sie politisch so interessiert sind? Wer und was hat Sie geprägt?
Ich glaube, es liegt daran, dass ich weiß, dass man unter anderen Bedingungen leben kann, als wir es in Ägypten gerade tun. Als ich ein Teenager war, hat meine Mutter als Übersetzerin fürs staatliche Radio gearbeitet, mein Vater war bei der Polizei. Sie waren also nicht gerade rebellisch. Mit 14 habe ich mich für das United World College in Italien beworben, eine internationale Schule mit Jugendlichen aus der ganzen Welt. Später bin ich auf die amerikanische Universität in Kario gegangen. In dieser Zeit wurden die Proteste gegen das Mubarak-Regime immer stärker, und wir haben viel darüber diskutiert. Meine Zeit im Ausland, die verschiedenen Menschen aus so unterschiedlichen Ländern und die Diskussionen an der Uni – all das hat mich sehr beeinflusst.
Sie praktizieren ein Geschäfts- und Führungsmodell, das für Ägypten unüblich ist: Mada Masr gehört allen 24 Gründern. Entscheiden Sie auch alles gemeinsam?
Nein, dass das nicht funktioniert, haben wir relativ schnell gemerkt. Wir sind heute insgesamt 28 Leute und 24 davon haben Mada Masr mitgegründet. Gemeinsam entscheiden wir nur noch, wenn es um die langfristige strategische Ausrichtung geht. Alltagsentscheidungen dürfen die Ressortleiter oder unsere Kollegen aus dem Vertrieb alleine oder in Absprache mit mir treffen.
Wie finanzieren Sie Ihr Nachrichtenportal?
Wir haben Mada Masr im Juni 2013 gegründet und damals Geld aus dem Ausland bekommen, unter anderem von der deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem dänischen International Media Support. Als Nebengeschäft bieten wir Übersetzungen an. In erster Linie wollen wir aber das Anzeigengeschäft auf unserer Website ausbauen und langfristig davon leben. Das ist ziemlich schwierig. Anfang vergangenen Jahres waren wir schon einmal so gut wie pleite. Wenn es gar nicht anders geht, versuche ich, erst mal selbst Geld vorzustrecken. Ich habe zum Beispiel die Möbel für unser Büro bezahlt, und einmal habe ich mein Auto verkauft, damit wir schnell an Geld kommen. Momentan reicht es. Aber wir wollen mehr Leute einstellen, um noch mehr Hintergrundgeschichten machen zu können – und das ist natürlich nicht umsonst.
Sie haben rund 350.000 Unique Visits im Monat. Wer sind Ihre Leser?
Die meisten kommen aus Ägypten, aber da wir eine arabische und eine englische Version unserer Website anbieten, haben wir auch Leser in den USA, Großbritannien, Kanada und anderen englischsprachigen Ländern. Es ist schwer, das ganz genau herauszufinden. Wir gehen davon aus, dass unsere Leser zur gut ausgebildeten Bevölkerung gehören: Sie glauben nicht einfach alles, was man ihnen erzählt.
Angenommen, wir wären schon im Jahr 2020 – wie wäre Mada Masr dann aufgestellt?
Ich würde sagen: In fünf Jahren sind wir das Standardmedium für einen Großteil der ägyptischen Bevölkerung. Wir dürfen uns nichts vormachen: Auch wenn wir heute schon eine Menge Leute erreichen, sind wir noch ein sehr kleines Pflänzchen. Und wir wollen uns natürlich selbst finanzieren,
ohne von Spenden abhängig zu sein.
Und wo steht Ägypten in fünf Jahren?
Ich habe keine Ahnung. Und es ist schwer, eine Prognose abzugeben. Momentan ist die Situation so dynamisch, dass alles Mögliche passieren kann. Ob das am Ende dazu führt, dass die Leute wieder freier leben und wir Journalisten ohne Angst vor Repressalien arbeiten können, ist schwer zu sagen. Das Einzige, was für mich momentan sicher scheint, ist, dass es in naher Zukunft keine stabile politische Situation in Ägypten geben wird.

Wer ist Lina Attalah?
Lina Attalah, 32, hat Journalismus und Politikwissenschaft an der American University in Kairo studiert. Während des Studiums berichtete sie als Praktikantin bei der Cairo Times vor allem über Demonstrationen gegen das Mubarak-Regime. Danach arbeitete sie unter anderem zwei Jahre für die BBC in Darfur und als verantwortliche Redakteurin für Al-Masry Al-
Youm, eine Tageszeitung, die arabische und online auch englische Texte veröffentlicht, bevor sie ebenfalls als verantwortliche Redakteurin zur englischen Zeitung Egypt Independent wechselte. Nachdem Verlag und Redaktion sich überworfen hatten, weil die Redaktion sich nicht an die in anderen Medien vorherrschende Selbstzensur anpassen wollte, wurde die Zeitung eingestellt. Attalah gründete daraufhin mit 23 Mistreitern Mada Masr. Am 30. Juni 2013 ging die Website online.

7000 Kilometer Angst

erschienen in: nido 5/2014

Sie sollen es besser haben als ihre Eltern. Und so sind viele Kinder alleine auf der Flucht nach Deutschland. Die Geschichte von Ahmad, der mit dreizehn seine Heimat Afghanistan verließ.

Ahmad* kann sich gut erinnern, wie die Hitze ihm damals plötzlich die Luft zum Atmen nimmt und die Welt sich immer schneller dreht. Und wie plötzlich alles um ihn herum dunkel ist. Er erinnert sich an die Stimmen aus der Ferne. „Taliban, Taliban.“ Und daran, wie er sich zwingt, die Augen zu öffnen. Sonnenlicht blendet ihn. Die Rufe werden lauter.

„Taliban.“ Er liegt auf etwas Hartem. Ahmad will sich aufsetzen, doch sein rechter Arm ist mit einer Handschelle an ein Rohr gekettet. In der linken Armbeuge steckt eine Infusionsnadel, an deren Ende ein dünner Schlauch baumelt.

„Hey, Taliban.“ Einer der Männer kniet plötzlich neben ihm und reißt die Infusionsnadel aus seinem Arm. Ahmad beißt die Zähne zusammen. Der Mann schließt die Handschellen auf, zerrt ihn am Handgelenk auf die Beine und stößt ihn vor sich her. Erst eine Treppe runter, dann in einen Heizungskeller, wo schon acht andere Flüchtlinge stehen. Jeder ist mit einem Arm an ein Heizungsrohr gefesselt. Sie haben ihn erwischt. Sie werden ihn ins Gefängnis stecken.

Ahmad hatte sich mit anderen Flüchtlingen in der griechischen Hafenstadt Patras unbemerkt in der Kartoffelladung eines Lkw-Containers versteckt. Dann war der Lkw auf ein Schiff gefahren. Es würde das Mittelmeer überqueren, bis nach Lecce in Italien, hatte ein Flüchtling Ahmad in Patras erklärt. Das Schiff hätte ihn seinem Ziel – Deutschland – fast 500 Kilometer näher gebracht.

Doch Hitze, Staub und Abgase hatten den Sauerstoff auf dem Autodeck der Fähre aufgefressen und Ahmad und sechs andere Jungs im Lkw-Container bewusstlos werden lassen. Panisch, so erzählen es jetzt aufgeregt die anderen Flüchtlinge im Heizungskeller, hatte der Junge, der am nächsten an der Ladeklappe des Lkw saß, gegen die Tür gehämmert, bis ein Schiffsarbeiter ihn hörte und sie befreite.

Der Tag, an dem Ahmad auf dem Schiff von Griechenland nach Italien entdeckt wird, liegt fast drei Jahre zurück. Zwei Wochen hält die griechische Polizei Ahmad anschließend im Gefängnis fest. Heute ist er siebzehn Jahre alt. Ein schmaler Junge mit einem wachen Blick und dichtem schwarzen Haar.

Für die deutschen Behörden ist Ahmad ein UMF: ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Ein Kind, ohne seine Eltern aus seinem Heimatland geflohen. Rund 4500 kamen allein im vergangenen Jahr in Deutschland an. Die meisten stammen aus Afghanistan, Somalia, Syrien und dem Irak.

Mit dreizehn Jahren flieht Ahmad aus seinem Dorf in Afghanistan, 400 Kilometer südwestlich von Kabul. Ein Jahr dauert die Flucht nach Deutschland. Mehr als 7000 Kilometer lang ist sein Weg, für den man das Wort Reise kaum benutzen mag, weil es nach gepolsterten Zugsesseln und Getränkeservice am Platz klingt. Ahmad lächelt, während er davon erzählt, doch es scheint, als würde er das Lächeln wie einen Schutzwall zwischen sich und seine traurigen Erinnerungen schieben.

Deutschland, findet Ahmad, ist ein freies Land. Er mag es, dass er hier sagen darf, was er denkt. Anders als in Afghanistan, wo er morgens „Nieder mit dem Westen, nieder mit Amerika“ brüllte, weil sein Lehrer ihn dazu zwang. Wo er fünf Mal am Tag betete, weil der Koran und seine Eltern das so wollten.

Heute hat er eine gleichaltrige deutsche Freundin, die andere nicht nach ihrer Religion beurteilt, und eine Betreuerin, die er immer anrufen darf. Er lebt mit zwei afghanischen Flüchtlingen in einer Wohngemeinschaft.

481 Euro bekommt er jeden Monat vom deutschen Staat. Er hat gelernt, dass deutsche Behörden dieses Geld Jugendhilfe nennen und er kauft davon am liebsten Semmelknödel und Spaghetti Bolognese und manchmal einen neuen Pullover.

Im Sommer macht Ahmad seinen Hauptschulabschluss. Er hofft, danach einen Ausbildungsplatz als Erzieher zu bekommen. Für andere Kinder will er das sein, was er selbst immer vermisst hat: ein Vorbild.

Ahmad ist acht oder neun Jahre alt, als er zum ersten Mal von Deutschland hört. Mit seiner Familie lebt er in einem kleinen Lehmhaus. Wasser holen sie in Kanistern von einer Quelle vor dem Dorf. Im Haus gibt es einen Schlafraum mit Matratzen auf dem Fußboden, einen Aufenthaltsraum, einen Ölofen und einen alten Fernseher. Wenn der Generator genug Strom liefert, schaut Ahmad die Actionserie „Alarm für Cobra 11“, in der ein großer deutscher und ein kleiner türkischer Polizist in schicken Autos Verbrecher über lange Straßen jagen. Am Ende werden die Verbrecher immer gefasst und Ahmad findet, dass es in Deutschland ziemlich gerecht zugeht. Anders als in seinem Heimatdorf, wo tagsüber das Militär und nachts die Taliban mit Waffen und Fäusten regieren.

Eines Tages – er kommt gerade mit seinem Vater zurück vom Feld eines Bauern, wo beide als Tagelöhner schuften – wählt er vom einzigen Telefon im ganzen Dorf die Nummer seines Onkels im Iran. Er bittet ihn um Hilfe. Er will nicht so enden wie sein Vater. Als armer Mann in einem Lehmhaus. Ohne Ausbildung und die Chance, sein Leben selbst zu gestalten.

Wenige Wochen später schleicht er sich nachts aus dem Haus seiner Eltern, klettert auf die Ladefläche eines kleinen Lkw, der ein paar Straßen weiter wartet, und versteckt sich zusammen mit anderen Flüchtlingen in einer Kiste, wie sein Onkel es ihm am Telefon erklärt hat. Dann fährt der Schlepper los.

Ahmad sagt: „Von diesem Moment bis zu meiner Ankunft in Deutschland hatte ich nur noch Angst.“ Ahmad will das Wort Schlepper nicht benutzen, weil es nach etwas Verbotenem klingt. Er sagt Fluchthelfer und er ist den Männern dankbar, denn ohne sie hätte er es nicht nach Europa geschafft. Er weiß nicht, wie viel Geld sein Onkel den Helfern gezahlt hat. Die üblichen Summen schwanken zwischen 3000 und 8000 US-Dollar. Drei Monate dauert die Fahrt nach Teheran.

Zum ersten Mal in seinem Leben verlässt Ahmad sein Land. Gefahren wird nur nachts, meistens durch bergige Gebiete möglichst weit entfernt von jeder Zivilisation, 2400 Kilometer legt der kleine Lkw mit fünf Flüchtlingen und einem Schlepper so zurück. Am Tag verstecken sie sich in zerklüfteten Felstälern oder Wäldern. Manchmal hungert Ahmad zwei Tage lang. Dann kommt er mit den anderen Flüchtlingen in einem kleinen, abgelegenen Dorf unter, wo die Frauen ihm Rindfleischsuppe kochen. Ahmad schläft auf dem feuchten Fußboden einer Lehmhütte, zugedeckt mit einem schmutzigen Laken. Die Bewohner geben ihm eine Hose und einen Pullover zum Wechseln und er kann sich im Bach hinter der Hütte waschen. Als sie weiterfahren, gibt der Schlepper einem Mann Geld. Ahmads Hoffnung ist für die Dorfbewohner ein lukratives Geschäft.

Sein Onkel in Teheran organisiert ihm einen Job in einer Gießerei, damit er selbst etwas zum Fluchtgeld beisteuert. Tagsüber steht der Junge zehn, manchmal zwölf Stunden an den glühend heißen Schmelzöfen. Nachts schläft er auf dem Steinboden eines fensterlosen Hinterzimmers der Gießerei.

An einem Freitag, dem Feiertag der islamischen Woche, bricht Ahmad wieder ins Ungewisse auf. Am späten Nachmittag parkt ein dunkles Auto in der Nähe der Gießerei. Von seinem Onkel weiß er, dass er sich bereithalten soll. Ahmad rennt, als er das Auto sieht.

2400 Kilometer sind es von Teheran nach Istanbul, alle 100 bis 150 Kilometer übernimmt ein neuer Schlepper die Gruppe. Die Bande will ihre Spuren verwischen, damit Polizei und Grenzschutzbehörden ihre Route nicht zurückverfolgen können. Meistens sind sie jetzt mit zwanzig oder 25 Menschen in einem Van unterwegs, der eigentlich für acht ausgelegt ist. Jemand hat die Sitze ausgebaut und Ahmad, der nicht weiß, wo er sich festhalten soll, schlägt sich an der Aluminiumverkleidung den Kopf blutig und zieht sich im Menschenknäuel Prellungen an Armen und Beinen zu, während die Schlepper über holprige Pisten und an steilen Berghängen entlang rasen.

Am gefährlichsten, erinnert er sich, war die Nacht, in der sie die iranisch-türkische Grenze überquerten. Wie menschliche Schutzschilde treiben die Schlepper Ahmad und die anderen Flüchtlinge im bergigen Grenz- gebiet vor sich her. Die Männer fürchten Schüsse der Grenzpolizei. Acht Stunden schlagen sie sich ohne Pause durch das Gebiet.

Ahmads Kehle brennt vor Durst, sein Rücken schmerzt und seine Knie zittern. Am Fuß der Berge wartet das nächste Fluchtauto. Bevor Ahmad einsteigen darf, nimmt der Fahrer ihm seine Turnschuhe weg, weil ihm die bunten Farben gefallen, und lacht. Draußen herrschen Minusgrade und ein anderer Flüchtling gibt Ahmad ein Paar Flipflops, das er in seinem Rucksack trägt. Und trotzdem: „Ich wäre lieber unterwegs gestorben, als nach Afghanistan zurückzukehren“, sagt Ahmad. Alle paar Tage drückt ein Schlepper Ahmad ein Handy in die Hand. Er muss seinen Onkel im Iran anrufen, damit dieser eine weitere Rate des Fluchtgeldes überweist.

Sechs Monate ist Ahmad nun schon unterwegs, rund 5000 Kilometer hat er von seinem Heimatdorf aus zurückgelegt. Es ist mitten in der Nacht, als er mit anderen Flüchtlingen zu Fuß und mit klopfendem Herzen die griechische Grenze überquert. Jetzt betritt er die Europäische Union. Ab hier gilt die Dublin-Verordnung. Ahmad hat zu diesem Zeitpunkt noch nie davon gehört.

Er weiß nicht, dass EU-Politiker schon Anfang der Neunzigerjahre eine Vereinbarung getroffen haben: Einem Flüchtling soll nur in dem EU-Land Asyl gewährt werden, das er zuerst betritt. Von Griechenland, so hat Ahmad es mit seinem Onkel vereinbart, muss er sich ohne Schlepper nach Deutschland durchschlagen. Mehr Geld kann der Onkel nicht aufbringen.

Vier Monate und vier Anläufe braucht Ahmad, bis er es unbemerkt auf eine Fähre schafft, die ihn über das Mittelmeer nach Italien bringt. Das erste Mal erwischt ihn die Polizei, als er sich in einem Zug Richtung Athen in einer Toilette versteckt. Ein anderes Mal schnappen sie ihn erst in Patras, als er sich gerade in einem Lkw-Container verkriecht.

Jedes Mal prügeln die Polizisten ihn mit Fäusten und Schlagstöcken, bis seine Arme, seine Beine und sein Rücken blutunterlaufen sind. Warum schlagt ihr mich?“, schreit Ahmad die Polizisten auf Persisch an. „Ich bin nicht euer Feind. Ich will nur zur Schule gehen.“ Als sie ihn das dritte Mal auf dem Autodeck der Fähre entdecken, sperren sie ihn ins Gefängnis.

Noch heute, fast drei Jahre später, fährt Ahmad manchmal vor Schreck zusammen und hat das Gefühl, wieder gefesselt auf dem griechischen Schiff zu sein. Er spürt dann die Nadel in seiner Armbeuge und hört die Stimmen der Arbeiter. Es sind die Symptome seiner posttraumatischen Belastungsstörung. Fast jeder zweite Flüchtling leidet darunter.

Ahmad hat deswegen oft Magen- und Bauchschmerzen und wird seit Anfang des Jahres von einer Psychologin behandelt. Bei den meisten Flüchtlingen werden die sogenannten Flashbacks im Laufe der Therapie weniger. Ganz gesund werden die wenigsten. Dafür ist ihre Traumatisierung oft zu stark.

Im vierten Anlauf schafft Ahmad es schließlich, sich mit sieben anderen Flüchtlingen von Polizei und Schiffsmitarbeitern unbemerkt in einen Lkw-Container zu schmuggeln. Wieder gräbt er sich eine Kuhle in einer Kartoffelladung. Er trägt eine kleine Flasche Wasser in seiner Hosentasche und benetzt immer wieder seine Lippen, während er die 36 Stunden bis Italien im Container auf dem Autodeck ausharrt. Dieses Mal hält sein Kreislauf der ölgeschwängerten Hitze stand.

Aus einem Müllcontainer in Patras hat er sich ein leeres Tetra Pak mitgenommen. Alle paar Stunden pinkelt er jetzt hinein und stellt seine Notfalltoilette vorsichtig in seinem engen Versteck ab. Er fürchtet, entdeckt zu werden, wenn sein Urin aus dem Lkw läuft.

Als die Fähre an der italienischen Stadt Lecce anlegt und der Laster von der Fähre rollt, bollern Ahmad und die anderen Flüchtlinge mit ihren Fäusten gegen die Wände des Lkw. Der Fahrer bremst und öffnet die Ladeklappe. Er schreit die Jungen auf Italienisch an. Ein Junge in seinem Alter fällt dem Fahrer aus lauter Dankbarkeit um den Hals und dann muss auch der Fahrer plötzlich lachen.

Mit zwei anderen Jungs fährt Ahmad mit dem Zug bis nach Rom. Es ist Ende August und Sommerhitze drückt auf die Stadt. Die Polizei fängt ihn auf der Straße ab und nimmt ihn mit aufs Revier. Die Beamten nehmen seine Fingerabdrücke und machen Fotos. Sie wollen wissen, wie und warum er nach Italien gekommen ist. Seine Daten stellen sie ins EURODAC. So heißt die Datenbank, in der alle EU-Länder die Fingerabdrücke von Asylbewerbern und sogenannten, nicht der EU angehörenden „Drittausländern“ ohne Aufenthaltserlaubnis sammeln. Dann lassen sie ihn laufen. Nachts schläft er in Parks, tagsüber läuft er durch die Straßen. Fast wie ein Tourist. Zwei Wochen dauert es, bis er von anderen afghanischen Flüchtlingen erfährt, wie er weiter nach Deutschland kommt. Der sicherste Weg, sagen sie, führt über Paris. Dort läuft er mit großen Augen durch die Galeries Lafayette, eines der ältesten und schillerndsten Kaufhäuser von Paris, abends, als das ganze Gebäude hell erleuchtet ist.

In den Straßen um die beiden großen Bahnhöfe Gare du Nord und Gare de l’Est fragt er andere afghanische Flüchtlinge, wie er von hier so schnell wie möglich nach Deutschland kommt und hört immer wieder einen Namen: Saarbrücken. Mit dem Zug, erfährt er von den Flüchtlingen, erreicht er die Stadt in zwei Stunden.

Es ist Oktober, als sein Zug in den Saarbrücker Bahnhof rollt. Draußen strahlt die Herbstsonne. Ahmad starrt gebannt aus dem Zugfenster. Kurz vor der Grenze sieht er eine deutsche Fahne im Wind wehen. Als er aus dem Zug steigt, sind viele Spaziergänger auf den Straßen.

Die Bundespolizei, die Züge zwischen Paris und Saarbrücken nach Flüchtlingen durchsucht, übersieht Ahmad. Dabei patrouilliert sie regelmäßig in Bussen und Zügen, die aus Frankreich kommen. 240 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wurden im vergangenen Jahr im Saarland aufgegriffen.

Der Jüngste war gerade einmal neun, die meisten zwischen vierzehn und siebzehn Jahren alt. „Manchmal sind wir die Ersten, die den Jugendlichen nach Stunden wieder etwas zu Essen und zu Trinken geben“, erzählt ein Beamter der Bundespolizei, der seit sechs Jahren an der deutsch-französischen Grenze im Einsatz ist. Auf dem Bahnhof geht Ahmed selbst zu den Polizisten. In Paris haben ihm andere Flüchtlinge erzählt, dass er vor den deutschen Beamten keine Angst haben muss.

Die Beamten nehmen ihn mit aufs Revier, machen Fotos, nehmen Fingerabdrücke, wollen seinen Namen und sein Geburtsdatum wissen und warum er nach Deutschland gekommen ist. Anschließend bringen sie ihn in ein Clearinghaus. Eine Erstversorgungseinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Von dort zieht er drei Wochen später in eine Wohngemeinschaft.

Von den annähernd 700 minderjährigen afghanischen Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr zum ersten Mal einen Antrag auf Asyl in Deutschland stellten, darf etwas mehr als die Hälfte immerhin zwischen einem und drei Jahren bleiben. Alle anderen werden nur geduldet. Das heißt, sie müssen alle drei Monate bei der Ausländerbehörde einen neuen Antrag stellen, um weitere drei Monate bleiben zu dürfen. Einen Ausbildungsplatz oder einen festen Job bekommt von ihnen fast niemand. Es ist eine Zukunft unter Vorbehalt.

Ahmad hat großes Glück: Die Ausländerbehörde gewährt ihm den sogenannten „subsidiären Schutz“, da für ihn bei einer Rückkehr in seine Heimat Lebensgefahr bestehen und er politisch verfolgt werden könnte. Er darf vorerst drei Jahre in Deutschland bleiben. Ende 2015 entscheidet die Ausländerbehörde, ob sein Aufenthalt verlängert wird.

Manchmal hat Ahmad Heimweh. Nach seiner Familie, nicht nach Afghanistan. Er vermisst seine beiden jüngeren Brüder, mit denen er nach der Schule manchmal Murmeln spielte. Seine Mutter und seine große Schwester, die jeden Tag Reis und Rindfleischsuppe kochten. Und seinen Vater. Er starb im vergangenen Jahr an Diabetes.

Einmal im Monat ruft Ahmad seine Familie an. 400 Kilometer südwestlich von Kabul klingelt dann das Telefon, mit dem er damals seinen Onkel im Iran anrief. Dass er seine Familie wiedersehen wird, glaubt er nicht. Zu gefährlich wäre es für ihn, den Überläufer in den Westen, in sein Heimatdorf zurückzukehren.

„Vielleicht ist es für meine Familie gut, dass ich jetzt hier bin. Wenn ich einen Beruf habe, will ich ihnen Geld schicken. Vielleicht haben sie dann auch ein besseres Leben“, sagt Ahmad – und lächelt.

Und er? Er möchte irgendwann seine deutsche Freundin heiraten, Kinder haben, eigenes Geld verdienen. Bescheidene Träume einer Zukunft, für die er schon jetzt einen hohen Preis gezahlt hat.

2015. In einem Jahr entscheidet sich, ob er bleiben kann. Oder ob er zurück muss in das 7000 Kilometer und unendlich entfernte Afghanistan.

Frau Panter spürt fast jeden auf

erschienen in: DIE ZEIT, April 2013

Ob leibliche Eltern oder Halbgeschwister – die Personensucherin findet Menschen auf der ganzen Welt

Wenn man Susanne Panter fragt, wie sie zu ihrem Job gekommen ist, erzählt sie die Geschichte von ihrem Opa, dem Erfinder der Kindersicherung für Steckdosen. Er sei ein Marktlücken-Finder gewesen und habe sich ausgedacht, was gebraucht wurde. Das habe sie von ihm geerbt. Susanne Panter besetzt mit ihrem Beruf in Deutschland gewissermaßen auch eine Marktlücke, denn es gibt nur wenige, die ihn ausüben: Die 46-Jährige ist Personensucherin. Sie hilft ihren Kunden, Menschen zu finden, die sie aus den Augen verloren oder noch nie getroffen haben.

Panter hat sich einen Job gesucht, der sie immer auch mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Denn die Konstellationen, denen sie bei ihrer Arbeit begegnet, kennt sie fast alle aus ihrer eigenen Familie. Ihre Mutter lässt sich scheiden. Panter hat eine Halbschwester, zwei Halbbrüder und einen Stiefbruder. Ihren leiblichen Vater lernt sie erst mit 18 Jahren kennen. Vielleicht will sie sich mit ihrem Job beweisen, dass es in anderen Fa mi lien noch chaotischer zugeht als bei ihr selbst. Panter formuliert es vorsichtiger, sie sagt: »Viele Schicksale, die in meinem Job vorkommen, gibt es auch in meiner Familie.«

Kinder anonymer Samenspender sind seit Kurzem potenzielle Auftraggeber

Eines dieser Schicksale ist das von Benjamin Schmitz. Der Einzelhandelskaufmann aus Velbert in der Nähe von Wuppertal ist 26 Jahre alt, Sohn einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters. Aufgewachsen ist er bei seiner Oma und bei seiner Mutter im Ruhrgebiet. Die Mutter hat keinen Kontakt zum Vater und verbietet dem Sohn, nach ihm zu suchen – deswegen möchte Benjamin Schmitz auch nicht seinen echten Namen in der Zeitung lesen. Jahrelang quälen ihn Fragen: Wie sieht sein Vater aus? Wie riecht er? Wie klingt seine Stimme? Mit 16 sucht er ihn zum ersten Mal. Vergeblich. Mit 24 versucht er es noch einmal. Erfolglos. Dann beauftragt er Susanne Panter.

Panters Büro liegt in der Frankfurter Innenstadt, nicht weit entfernt von der Zeil, einer der belebtesten Einkaufsstraßen Deutschlands. Ihr Büro ist weniger aufregend. Genau genommen, ist es nur eine spartanisch eingerichtete Ecke in ihrem Wohnzimmer. Dort steht ein großer Schreibtisch, darauf ein Laptop, der mit dem Internettelefonprogramm Skype und einem Headset ausgerüstet ist, ein Telefon und fünf Papierstapel. Für jede Suche macht sie einen neuen Stapel.

Von diesem Tisch aus hat Panter in den vergangenen 13 Jahren rund 3000 Menschen in der ganzen Welt gesucht. Mehr als 2800 von ihnen habe sie gefunden, sagt sie, eine Erfolgsquote von über 90 Prozent. Mit den Familien, die sie zusammengebracht hat, ließe sich eine Kleinstadt bevölkern. »Wenn sich jemand nicht absichtlich versteckt,
finde ich ihn beinahe überall«, sagt Panter. Hinter ihrem Schreibtisch hängt eine anderthalb Meter mal einen Meter große Weltkarte. Sie ist vergilbt vom Sonnenlicht, das durch die bodentiefen Fenster fällt. Mit Stecknadeln hat Panter auf der Karte die Länder markiert, in denen sie bereits Menschen gefunden hat: in Deutschland, Südafrika, Großbritannien, den USA, Chile, Russland oder Australien. Mehr als 50 Nadeln stecken in der Karte.
Zu Panter kommen Menschen, die adoptiert wurden und als Erwachsene ihre leiblichen Eltern suchen. Menschen, die wie Schmitz ohne ihren Vater aufgewachsen sind und nicht wissen, wo er sich aufhält.

Sie hoffen, einen Teil von sich selbst zu entdecken, der bislang unsichtbar war: Niemand könne wissen, wer er sei, ohne zu wissen, wo er herkomme, so sieht es Panter. Seit Kurzem hat sie noch mehr potenzielle Kunden: Vor einigen Wochen entschied das Oberlandesgericht Hamm, dass Kinder, die durch eine Samenspende gezeugt wurden, erfahren dürfen, wer ihr leiblicher Vater ist. In Deutschland betrifft das rund 100 000 Menschen. Panter findet das Urteil gerecht. Sie sagt: »Viele, die ihren leiblichen Vater nicht kennen, glauben ihr Leben lang, es sei nicht in Ordnung, dass es sie gibt.« Für Panter ist es fast eine Mission geworden, ihnen dieses Gefühl zu nehmen. Sie erinnert sich, dass sie sich selbst genauso fühlte, bevor sie ihren leiblichen Vater kennenlernte. Heute hat sie ihr Familienleben für sich selbst geordnet, lebt in einer festen Beziehung und hat viel Kontakt zu ihrer Halbschwester.

Mit ihrer Ausbildung hat ihr heutiger Beruf nichts mehr zu tun. Nach der Schule macht sie eine Lehre zur Bankkauffrau. Später studiert sie neben dem Job und wird Kommunikationswirtin. Sie wechselt häufig die Stelle, zieht mehrmals um, ist nie richtig zufrieden und immer auf der Suche.

Mit einer Freundin macht sie sich Mitte der Neunziger selbstständig: Sie gründen einen Klassentreff-Service, um alte Schulfreunde zusammenzubringen. Der Plan geht schief, sie bekommen nicht genügend Aufträge. Panter bleibt hartnäckig, ihre Idee ruhen zu lassen wäre für sie eine Niederlage. Sie ist überzeugt, dass es keinen Job gibt, der besser zu ihrer eigenen Geschichte passt.

Fünf Jahre später versucht sie es deshalb noch einmal. Sie schickt eine Pressemitteilung an den Tip, ein Berliner Stadtmagazin. Darin erklärt sie ihre Geschäftsidee. Kurze Zeit später hat sie so viele Anfragen, dass sie diese kaum noch bewältigen kann. Die meisten suchen ihre leiblichen Eltern. »Offensichtlich wurde jemand wie ich gebraucht«, sagt sie. 700 Euro kostet es, wenn Panter in Deutschland jemanden sucht. Im Ausland ist die Suche je nach Land teurer. 200 Euro muss ein Kunde anzahlen, bevor sie mit der Arbeit beginnt. Den Rest zahlt er nur bei Erfolg. Einen Teil des Geldes gibt Panter fast immer für die Akteneinsicht bei verschiedenen Ämtern aus. Bei welchen Behörden sie Informationen über die Gesuchten bekommt, hat sie sich im Laufe der Zeit selbst beigebracht.

Den Vater von Schmitz fand Panter nach rund vier Monaten in einem Vorort von Lyon in Südfrankreich. Er arbeitete in einem Krankenhaus. Panter recherchierte dafür zunächst beim Jugendamt. Als Schmitz 1987 geboren wurde, übernahm das Amt noch die Vormundschaft für Kinder, die ohne ihren Vater aufwachsen. Doch die Mitarbeiter fanden seine Akte nicht. Panter versuchte es beim Standesamt. Sie hoffte, dass es in den Meldeunterlagen einen Hinweis auf den Vater gibt. Vergeblich. Glück hatte sie beim Betreuungsgericht, dem früheren Vormundschaftsgericht.

In Schmitz’ Akte entdeckte sie eine Adresse des Vaters aus dem Jahr 1987. Wie lange die Suche dauert, spielt für Panters Honorar keine Rolle. Ob sich ein Fall lohnt oder ein Minusgeschäft ist, weiß sie immer erst am Ende. »Es ist schon vorgekommen, dass ich jemanden im Telefonbuch gefunden habe«, erzählt sie. »Manchmal suche ich aber auch mehrere Monate und finde denjenigen trotzdem nicht.« Ihr längster Fall dauerte rund zwei Jahre. Sie gibt eine Suche erst auf, wenn sie gar keine Chance mehr sieht, den Gesuchten aufzuspüren. Wer einen Personensucher braucht, landet schnell bei Susanne Panter.

Viel Konkurrenz hat sie in Deutschland nicht. Das Deutsche Rote Kreuz gründete nach dem Zweiten Weltkrieg einen Suchdienst für Menschen, die während des Krieges verschwanden. Noch heute sind mehr als eine Million Fälle ungeklärt, viele der Vermissten vermutlich schon tot. Außerdem bietet eine Handvoll kleiner Unternehmen Personensuchdienste an. Wer mit Menschen spricht, die Angehörige suchen, erfährt über manche von ihnen auch Unseriöses.

Eine Ausbildung oder ein Zertifikat braucht ein Personensucher
in Deutschland nicht. Panter wünscht sich, dass es einmal so weit kommt: »Solange jeder einen Suchdienst aufmachen kann, ist die Gefahr groß, dass verzweifelte Menschen damit abgezockt werden«, glaubt sie.

Vorbild sind für sie die USA, Australien und Großbritannien. Dort helfen staatliche Organisationen, sogenannte Post-Adoption Services, Adoptierten, ihre leiblichen Eltern zu finden. Bei Auslandsrecherchen arbeitet Panter mit diesen Organisationen zusammen. Außerdem unterstützen sie freie Mitarbeiter für englisch-, spanisch-, italienisch- und französischsprachige sowie für alle skandinavischen Länder.

Für die Suche nach Schmitz’ Vater hat Panter ihre Mitarbeiterin in Paris beauftragt. Als die Mitarbeiterin den Vater unter der alten Adresse nicht fand, hat sie Nachbarn in derselben Straße kontaktiert und gefragt, ob sich jemand an den Mann erinnere. Eine alte Frau glaubte, ihn zu kennen. Sie hatte Kontakt zu Schmitz’ französischer Großmutter. Von der bekam Panters Mitarbeiterin schließlich die Adresse des Vaters. Auf den Brief, den Panter und ihre Mitarbeiterin ihm schrieben, reagierte er zunächst nicht. Dann meldete er sich plötzlich.

Kaum ein Mann will riskieren, dass ein Brief des leiblichen Kindes ankommt

Wenn Panters Suche erfolgreich ist, schreibt sie dem Gesuchten immer zuerst einen Brief. Sucht jemand seinen leiblichen Vater, muss sie aufpassen: »Viele Männer haben in der Zwischenzeit eine neue Familie gegründet. Wenn ich dort anrufe, könnte ich ganze Familien zerstören.« Panter schreibt deshalb im ersten Brief, dass der Gesuchte für eine Familienforschung gebraucht werde. Wer nicht reagiert, bekommt nach Rücksprache mit dem Suchenden einen zweiten Brief. Darin schreibt Panter, dass man es akzeptiere, dass kein Kontakt gewünscht sei, sie dem Suchenden aber empfehlen werde, einen persönlichen Brief zu schicken. »Darauf reagieren die meisten«, sagt sie. Kaum jemand will riskieren, dass unangemeldet ein Brief des leiblichen Kindes ankommt, von dem die neue Familie nichts ahnt.

Panter weiß, dass sie den Gesuchten damit unter Druck setzt: »Viele wollen in der neuen Familie ihrer Eltern nichts kaputt machen«, erzählt sie. »Dabei ist es doch genau umgekehrt: Wenn jemand etwas kaputtgemacht hat, dann waren es die leiblichen Eltern selbst.«

Der Vater von Benjamin Schmitz hat zurzeit keine Partnerin, doch er ist gläubiger Muslim. Seine Mutter und seine Geschwister sollen nicht wissen, dass er einen unehelichen Sohn hat. Zunächst haben sich Vater und Sohn nur SMS geschrieben. Schmitz spricht kein Französisch, sein Vater weder Deutsch noch Englisch. Ihre Nachrichten übersetzten sie mit Google Translate, dann verabredeten sie sich zum bislang einzigen Treffen in Paris. Panters Mitarbeiterin war dabei, um zu dolmetschen. »Ich hatte das Gefühl, dass mein eigenes Ich auf mich zuläuft«, erzählt Schmitz. Wie es für sie beide weitergeht, weiß er noch nicht. Der Vater ist herzkrank und zieht sich häufig zurück. Für Schmitz ist es jedoch am wichtigsten, ihn überhaupt kennengelernt zu haben.