7000 Kilometer Angst

erschienen in: nido 5/2014

Sie sollen es besser haben als ihre Eltern. Und so sind viele Kinder alleine auf der Flucht nach Deutschland. Die Geschichte von Ahmad, der mit dreizehn seine Heimat Afghanistan verließ.

Ahmad* kann sich gut erinnern, wie die Hitze ihm damals plötzlich die Luft zum Atmen nimmt und die Welt sich immer schneller dreht. Und wie plötzlich alles um ihn herum dunkel ist. Er erinnert sich an die Stimmen aus der Ferne. „Taliban, Taliban.“ Und daran, wie er sich zwingt, die Augen zu öffnen. Sonnenlicht blendet ihn. Die Rufe werden lauter.

„Taliban.“ Er liegt auf etwas Hartem. Ahmad will sich aufsetzen, doch sein rechter Arm ist mit einer Handschelle an ein Rohr gekettet. In der linken Armbeuge steckt eine Infusionsnadel, an deren Ende ein dünner Schlauch baumelt.

„Hey, Taliban.“ Einer der Männer kniet plötzlich neben ihm und reißt die Infusionsnadel aus seinem Arm. Ahmad beißt die Zähne zusammen. Der Mann schließt die Handschellen auf, zerrt ihn am Handgelenk auf die Beine und stößt ihn vor sich her. Erst eine Treppe runter, dann in einen Heizungskeller, wo schon acht andere Flüchtlinge stehen. Jeder ist mit einem Arm an ein Heizungsrohr gefesselt. Sie haben ihn erwischt. Sie werden ihn ins Gefängnis stecken.

Ahmad hatte sich mit anderen Flüchtlingen in der griechischen Hafenstadt Patras unbemerkt in der Kartoffelladung eines Lkw-Containers versteckt. Dann war der Lkw auf ein Schiff gefahren. Es würde das Mittelmeer überqueren, bis nach Lecce in Italien, hatte ein Flüchtling Ahmad in Patras erklärt. Das Schiff hätte ihn seinem Ziel – Deutschland – fast 500 Kilometer näher gebracht.

Doch Hitze, Staub und Abgase hatten den Sauerstoff auf dem Autodeck der Fähre aufgefressen und Ahmad und sechs andere Jungs im Lkw-Container bewusstlos werden lassen. Panisch, so erzählen es jetzt aufgeregt die anderen Flüchtlinge im Heizungskeller, hatte der Junge, der am nächsten an der Ladeklappe des Lkw saß, gegen die Tür gehämmert, bis ein Schiffsarbeiter ihn hörte und sie befreite.

Der Tag, an dem Ahmad auf dem Schiff von Griechenland nach Italien entdeckt wird, liegt fast drei Jahre zurück. Zwei Wochen hält die griechische Polizei Ahmad anschließend im Gefängnis fest. Heute ist er siebzehn Jahre alt. Ein schmaler Junge mit einem wachen Blick und dichtem schwarzen Haar.

Für die deutschen Behörden ist Ahmad ein UMF: ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Ein Kind, ohne seine Eltern aus seinem Heimatland geflohen. Rund 4500 kamen allein im vergangenen Jahr in Deutschland an. Die meisten stammen aus Afghanistan, Somalia, Syrien und dem Irak.

Mit dreizehn Jahren flieht Ahmad aus seinem Dorf in Afghanistan, 400 Kilometer südwestlich von Kabul. Ein Jahr dauert die Flucht nach Deutschland. Mehr als 7000 Kilometer lang ist sein Weg, für den man das Wort Reise kaum benutzen mag, weil es nach gepolsterten Zugsesseln und Getränkeservice am Platz klingt. Ahmad lächelt, während er davon erzählt, doch es scheint, als würde er das Lächeln wie einen Schutzwall zwischen sich und seine traurigen Erinnerungen schieben.

Deutschland, findet Ahmad, ist ein freies Land. Er mag es, dass er hier sagen darf, was er denkt. Anders als in Afghanistan, wo er morgens „Nieder mit dem Westen, nieder mit Amerika“ brüllte, weil sein Lehrer ihn dazu zwang. Wo er fünf Mal am Tag betete, weil der Koran und seine Eltern das so wollten.

Heute hat er eine gleichaltrige deutsche Freundin, die andere nicht nach ihrer Religion beurteilt, und eine Betreuerin, die er immer anrufen darf. Er lebt mit zwei afghanischen Flüchtlingen in einer Wohngemeinschaft.

481 Euro bekommt er jeden Monat vom deutschen Staat. Er hat gelernt, dass deutsche Behörden dieses Geld Jugendhilfe nennen und er kauft davon am liebsten Semmelknödel und Spaghetti Bolognese und manchmal einen neuen Pullover.

Im Sommer macht Ahmad seinen Hauptschulabschluss. Er hofft, danach einen Ausbildungsplatz als Erzieher zu bekommen. Für andere Kinder will er das sein, was er selbst immer vermisst hat: ein Vorbild.

Ahmad ist acht oder neun Jahre alt, als er zum ersten Mal von Deutschland hört. Mit seiner Familie lebt er in einem kleinen Lehmhaus. Wasser holen sie in Kanistern von einer Quelle vor dem Dorf. Im Haus gibt es einen Schlafraum mit Matratzen auf dem Fußboden, einen Aufenthaltsraum, einen Ölofen und einen alten Fernseher. Wenn der Generator genug Strom liefert, schaut Ahmad die Actionserie „Alarm für Cobra 11“, in der ein großer deutscher und ein kleiner türkischer Polizist in schicken Autos Verbrecher über lange Straßen jagen. Am Ende werden die Verbrecher immer gefasst und Ahmad findet, dass es in Deutschland ziemlich gerecht zugeht. Anders als in seinem Heimatdorf, wo tagsüber das Militär und nachts die Taliban mit Waffen und Fäusten regieren.

Eines Tages – er kommt gerade mit seinem Vater zurück vom Feld eines Bauern, wo beide als Tagelöhner schuften – wählt er vom einzigen Telefon im ganzen Dorf die Nummer seines Onkels im Iran. Er bittet ihn um Hilfe. Er will nicht so enden wie sein Vater. Als armer Mann in einem Lehmhaus. Ohne Ausbildung und die Chance, sein Leben selbst zu gestalten.

Wenige Wochen später schleicht er sich nachts aus dem Haus seiner Eltern, klettert auf die Ladefläche eines kleinen Lkw, der ein paar Straßen weiter wartet, und versteckt sich zusammen mit anderen Flüchtlingen in einer Kiste, wie sein Onkel es ihm am Telefon erklärt hat. Dann fährt der Schlepper los.

Ahmad sagt: „Von diesem Moment bis zu meiner Ankunft in Deutschland hatte ich nur noch Angst.“ Ahmad will das Wort Schlepper nicht benutzen, weil es nach etwas Verbotenem klingt. Er sagt Fluchthelfer und er ist den Männern dankbar, denn ohne sie hätte er es nicht nach Europa geschafft. Er weiß nicht, wie viel Geld sein Onkel den Helfern gezahlt hat. Die üblichen Summen schwanken zwischen 3000 und 8000 US-Dollar. Drei Monate dauert die Fahrt nach Teheran.

Zum ersten Mal in seinem Leben verlässt Ahmad sein Land. Gefahren wird nur nachts, meistens durch bergige Gebiete möglichst weit entfernt von jeder Zivilisation, 2400 Kilometer legt der kleine Lkw mit fünf Flüchtlingen und einem Schlepper so zurück. Am Tag verstecken sie sich in zerklüfteten Felstälern oder Wäldern. Manchmal hungert Ahmad zwei Tage lang. Dann kommt er mit den anderen Flüchtlingen in einem kleinen, abgelegenen Dorf unter, wo die Frauen ihm Rindfleischsuppe kochen. Ahmad schläft auf dem feuchten Fußboden einer Lehmhütte, zugedeckt mit einem schmutzigen Laken. Die Bewohner geben ihm eine Hose und einen Pullover zum Wechseln und er kann sich im Bach hinter der Hütte waschen. Als sie weiterfahren, gibt der Schlepper einem Mann Geld. Ahmads Hoffnung ist für die Dorfbewohner ein lukratives Geschäft.

Sein Onkel in Teheran organisiert ihm einen Job in einer Gießerei, damit er selbst etwas zum Fluchtgeld beisteuert. Tagsüber steht der Junge zehn, manchmal zwölf Stunden an den glühend heißen Schmelzöfen. Nachts schläft er auf dem Steinboden eines fensterlosen Hinterzimmers der Gießerei.

An einem Freitag, dem Feiertag der islamischen Woche, bricht Ahmad wieder ins Ungewisse auf. Am späten Nachmittag parkt ein dunkles Auto in der Nähe der Gießerei. Von seinem Onkel weiß er, dass er sich bereithalten soll. Ahmad rennt, als er das Auto sieht.

2400 Kilometer sind es von Teheran nach Istanbul, alle 100 bis 150 Kilometer übernimmt ein neuer Schlepper die Gruppe. Die Bande will ihre Spuren verwischen, damit Polizei und Grenzschutzbehörden ihre Route nicht zurückverfolgen können. Meistens sind sie jetzt mit zwanzig oder 25 Menschen in einem Van unterwegs, der eigentlich für acht ausgelegt ist. Jemand hat die Sitze ausgebaut und Ahmad, der nicht weiß, wo er sich festhalten soll, schlägt sich an der Aluminiumverkleidung den Kopf blutig und zieht sich im Menschenknäuel Prellungen an Armen und Beinen zu, während die Schlepper über holprige Pisten und an steilen Berghängen entlang rasen.

Am gefährlichsten, erinnert er sich, war die Nacht, in der sie die iranisch-türkische Grenze überquerten. Wie menschliche Schutzschilde treiben die Schlepper Ahmad und die anderen Flüchtlinge im bergigen Grenz- gebiet vor sich her. Die Männer fürchten Schüsse der Grenzpolizei. Acht Stunden schlagen sie sich ohne Pause durch das Gebiet.

Ahmads Kehle brennt vor Durst, sein Rücken schmerzt und seine Knie zittern. Am Fuß der Berge wartet das nächste Fluchtauto. Bevor Ahmad einsteigen darf, nimmt der Fahrer ihm seine Turnschuhe weg, weil ihm die bunten Farben gefallen, und lacht. Draußen herrschen Minusgrade und ein anderer Flüchtling gibt Ahmad ein Paar Flipflops, das er in seinem Rucksack trägt. Und trotzdem: „Ich wäre lieber unterwegs gestorben, als nach Afghanistan zurückzukehren“, sagt Ahmad. Alle paar Tage drückt ein Schlepper Ahmad ein Handy in die Hand. Er muss seinen Onkel im Iran anrufen, damit dieser eine weitere Rate des Fluchtgeldes überweist.

Sechs Monate ist Ahmad nun schon unterwegs, rund 5000 Kilometer hat er von seinem Heimatdorf aus zurückgelegt. Es ist mitten in der Nacht, als er mit anderen Flüchtlingen zu Fuß und mit klopfendem Herzen die griechische Grenze überquert. Jetzt betritt er die Europäische Union. Ab hier gilt die Dublin-Verordnung. Ahmad hat zu diesem Zeitpunkt noch nie davon gehört.

Er weiß nicht, dass EU-Politiker schon Anfang der Neunzigerjahre eine Vereinbarung getroffen haben: Einem Flüchtling soll nur in dem EU-Land Asyl gewährt werden, das er zuerst betritt. Von Griechenland, so hat Ahmad es mit seinem Onkel vereinbart, muss er sich ohne Schlepper nach Deutschland durchschlagen. Mehr Geld kann der Onkel nicht aufbringen.

Vier Monate und vier Anläufe braucht Ahmad, bis er es unbemerkt auf eine Fähre schafft, die ihn über das Mittelmeer nach Italien bringt. Das erste Mal erwischt ihn die Polizei, als er sich in einem Zug Richtung Athen in einer Toilette versteckt. Ein anderes Mal schnappen sie ihn erst in Patras, als er sich gerade in einem Lkw-Container verkriecht.

Jedes Mal prügeln die Polizisten ihn mit Fäusten und Schlagstöcken, bis seine Arme, seine Beine und sein Rücken blutunterlaufen sind. Warum schlagt ihr mich?“, schreit Ahmad die Polizisten auf Persisch an. „Ich bin nicht euer Feind. Ich will nur zur Schule gehen.“ Als sie ihn das dritte Mal auf dem Autodeck der Fähre entdecken, sperren sie ihn ins Gefängnis.

Noch heute, fast drei Jahre später, fährt Ahmad manchmal vor Schreck zusammen und hat das Gefühl, wieder gefesselt auf dem griechischen Schiff zu sein. Er spürt dann die Nadel in seiner Armbeuge und hört die Stimmen der Arbeiter. Es sind die Symptome seiner posttraumatischen Belastungsstörung. Fast jeder zweite Flüchtling leidet darunter.

Ahmad hat deswegen oft Magen- und Bauchschmerzen und wird seit Anfang des Jahres von einer Psychologin behandelt. Bei den meisten Flüchtlingen werden die sogenannten Flashbacks im Laufe der Therapie weniger. Ganz gesund werden die wenigsten. Dafür ist ihre Traumatisierung oft zu stark.

Im vierten Anlauf schafft Ahmad es schließlich, sich mit sieben anderen Flüchtlingen von Polizei und Schiffsmitarbeitern unbemerkt in einen Lkw-Container zu schmuggeln. Wieder gräbt er sich eine Kuhle in einer Kartoffelladung. Er trägt eine kleine Flasche Wasser in seiner Hosentasche und benetzt immer wieder seine Lippen, während er die 36 Stunden bis Italien im Container auf dem Autodeck ausharrt. Dieses Mal hält sein Kreislauf der ölgeschwängerten Hitze stand.

Aus einem Müllcontainer in Patras hat er sich ein leeres Tetra Pak mitgenommen. Alle paar Stunden pinkelt er jetzt hinein und stellt seine Notfalltoilette vorsichtig in seinem engen Versteck ab. Er fürchtet, entdeckt zu werden, wenn sein Urin aus dem Lkw läuft.

Als die Fähre an der italienischen Stadt Lecce anlegt und der Laster von der Fähre rollt, bollern Ahmad und die anderen Flüchtlinge mit ihren Fäusten gegen die Wände des Lkw. Der Fahrer bremst und öffnet die Ladeklappe. Er schreit die Jungen auf Italienisch an. Ein Junge in seinem Alter fällt dem Fahrer aus lauter Dankbarkeit um den Hals und dann muss auch der Fahrer plötzlich lachen.

Mit zwei anderen Jungs fährt Ahmad mit dem Zug bis nach Rom. Es ist Ende August und Sommerhitze drückt auf die Stadt. Die Polizei fängt ihn auf der Straße ab und nimmt ihn mit aufs Revier. Die Beamten nehmen seine Fingerabdrücke und machen Fotos. Sie wollen wissen, wie und warum er nach Italien gekommen ist. Seine Daten stellen sie ins EURODAC. So heißt die Datenbank, in der alle EU-Länder die Fingerabdrücke von Asylbewerbern und sogenannten, nicht der EU angehörenden „Drittausländern“ ohne Aufenthaltserlaubnis sammeln. Dann lassen sie ihn laufen. Nachts schläft er in Parks, tagsüber läuft er durch die Straßen. Fast wie ein Tourist. Zwei Wochen dauert es, bis er von anderen afghanischen Flüchtlingen erfährt, wie er weiter nach Deutschland kommt. Der sicherste Weg, sagen sie, führt über Paris. Dort läuft er mit großen Augen durch die Galeries Lafayette, eines der ältesten und schillerndsten Kaufhäuser von Paris, abends, als das ganze Gebäude hell erleuchtet ist.

In den Straßen um die beiden großen Bahnhöfe Gare du Nord und Gare de l’Est fragt er andere afghanische Flüchtlinge, wie er von hier so schnell wie möglich nach Deutschland kommt und hört immer wieder einen Namen: Saarbrücken. Mit dem Zug, erfährt er von den Flüchtlingen, erreicht er die Stadt in zwei Stunden.

Es ist Oktober, als sein Zug in den Saarbrücker Bahnhof rollt. Draußen strahlt die Herbstsonne. Ahmad starrt gebannt aus dem Zugfenster. Kurz vor der Grenze sieht er eine deutsche Fahne im Wind wehen. Als er aus dem Zug steigt, sind viele Spaziergänger auf den Straßen.

Die Bundespolizei, die Züge zwischen Paris und Saarbrücken nach Flüchtlingen durchsucht, übersieht Ahmad. Dabei patrouilliert sie regelmäßig in Bussen und Zügen, die aus Frankreich kommen. 240 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wurden im vergangenen Jahr im Saarland aufgegriffen.

Der Jüngste war gerade einmal neun, die meisten zwischen vierzehn und siebzehn Jahren alt. „Manchmal sind wir die Ersten, die den Jugendlichen nach Stunden wieder etwas zu Essen und zu Trinken geben“, erzählt ein Beamter der Bundespolizei, der seit sechs Jahren an der deutsch-französischen Grenze im Einsatz ist. Auf dem Bahnhof geht Ahmed selbst zu den Polizisten. In Paris haben ihm andere Flüchtlinge erzählt, dass er vor den deutschen Beamten keine Angst haben muss.

Die Beamten nehmen ihn mit aufs Revier, machen Fotos, nehmen Fingerabdrücke, wollen seinen Namen und sein Geburtsdatum wissen und warum er nach Deutschland gekommen ist. Anschließend bringen sie ihn in ein Clearinghaus. Eine Erstversorgungseinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Von dort zieht er drei Wochen später in eine Wohngemeinschaft.

Von den annähernd 700 minderjährigen afghanischen Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr zum ersten Mal einen Antrag auf Asyl in Deutschland stellten, darf etwas mehr als die Hälfte immerhin zwischen einem und drei Jahren bleiben. Alle anderen werden nur geduldet. Das heißt, sie müssen alle drei Monate bei der Ausländerbehörde einen neuen Antrag stellen, um weitere drei Monate bleiben zu dürfen. Einen Ausbildungsplatz oder einen festen Job bekommt von ihnen fast niemand. Es ist eine Zukunft unter Vorbehalt.

Ahmad hat großes Glück: Die Ausländerbehörde gewährt ihm den sogenannten „subsidiären Schutz“, da für ihn bei einer Rückkehr in seine Heimat Lebensgefahr bestehen und er politisch verfolgt werden könnte. Er darf vorerst drei Jahre in Deutschland bleiben. Ende 2015 entscheidet die Ausländerbehörde, ob sein Aufenthalt verlängert wird.

Manchmal hat Ahmad Heimweh. Nach seiner Familie, nicht nach Afghanistan. Er vermisst seine beiden jüngeren Brüder, mit denen er nach der Schule manchmal Murmeln spielte. Seine Mutter und seine große Schwester, die jeden Tag Reis und Rindfleischsuppe kochten. Und seinen Vater. Er starb im vergangenen Jahr an Diabetes.

Einmal im Monat ruft Ahmad seine Familie an. 400 Kilometer südwestlich von Kabul klingelt dann das Telefon, mit dem er damals seinen Onkel im Iran anrief. Dass er seine Familie wiedersehen wird, glaubt er nicht. Zu gefährlich wäre es für ihn, den Überläufer in den Westen, in sein Heimatdorf zurückzukehren.

„Vielleicht ist es für meine Familie gut, dass ich jetzt hier bin. Wenn ich einen Beruf habe, will ich ihnen Geld schicken. Vielleicht haben sie dann auch ein besseres Leben“, sagt Ahmad – und lächelt.

Und er? Er möchte irgendwann seine deutsche Freundin heiraten, Kinder haben, eigenes Geld verdienen. Bescheidene Träume einer Zukunft, für die er schon jetzt einen hohen Preis gezahlt hat.

2015. In einem Jahr entscheidet sich, ob er bleiben kann. Oder ob er zurück muss in das 7000 Kilometer und unendlich entfernte Afghanistan.